Hans- Werner Stecker:

Der Zwang zur Entscheidung

(über „Sachzwänge“ und die Begrenztheit der Ressourcen in der Arbeit einer therapeutischen Wohngemeinschaft für Haftentlassene im Kreis 74, Bielefeld)

aus: Weil, Jochi (Hrsg.): Zwischen Zwängen und Freiheit. Jugendlichkeit zwischen Anstalten und Autonomie. Edition Neser, Konstanz, 1981, S. 53 - 63

1.1

Ich habe "ja" gesagt. Das sagt sich recht einfach: "ja". Ich war von einer Idee begeistert, einen Beitrag zu diesem Buch zu schreiben. Und nun sitze ich da und muss sehen, wie ich diese Idee verwirkliche. Aus meiner anfänglichen Begeisterung und meiner Einwilligung fühle ich nun eine Verpflichtung erwachsen, die ich mir selber auferlege. Ich sehe mich nämlich gerne als jemanden, der die Dinge ernst nimmt, der zu seinem Wort steht und einmal angefangene Sachen auch zu Ende führt. Für diese Haltung bin ich schließlich auch durch einige Erfolgserlebnisse belohnt worden. Ich nehme dafür notgedrungen in Kauf, dass ich nun wirklich für einige Zeit am Schreibtisch sitzen werde und währenddessen die Befriedigung anderer Bedürfnisse zurückstellen muss.

So sitzt beispielsweise meine Frau gerade im Wohnzimmer und hat mich gefragt, ob wir nicht das augenblicklich schöne Wetter genießen und einen Spaziergang machen wollen. Es würde sicher sehr schön werden, und wir könnten wieder einmal ausgiebig miteinander reden, was bei unserer knappen Zeit und unserer allgemeinen Müdigkeit nach dem täglichen Arbeitspensum viel zu selten vorkommt. Schließlich habe ich auch ihr gegenüber einmal "ja" gesagt und damit meinen Willen geäußert, mich voll in unsere gemeinsame Partnerbeziehung einzubringen. Und jetzt entziehe ich mich, weil mir dieser Artikel im Augenblick wichtiger erscheint. Ist er das wert?

Wie empfindest Du diese Situation, lieber Leser? Ich stelle mir gerade vor, Du sitzt irgendwo und liest das, was ich geschrieben habe. Du hast Dich ebenso zurückgezogen. Dir ist es im Augenblick offensichtlich wichtiger, in diesem Buch zu lesen, als z.B. den Kontakt zu Deinen Freunden wieder mal zu intensivieren oder endlich einmal wieder ganz in Ruhe konzentriert Deine Lieblingsmusik zu hören. Vielleicht übst Du einen ähnlichen Beruf aus wie ich und während Du da sitzt und liest, könnte einer Deiner Klienten ganz dringend Deine Hilfe brauchen. Du willst weiterlesen? Das heißt, Du sagst "nein" zu Deinen Freunden, zu Deiner Lieblingsmusik, zu Deinem Klienten. Nun gut, Du hast Dich entschieden.

1.2

Mir ist es wichtig, etwas eingehender über dieses Entscheiden nachzudenken, über den ständig bestehenden Zwang, auswählen zu müssen zwischen dem, das man gerade tun will, und dem, was man folgerichtig nicht zur gleichen Zeit tun kann. An sich ist das trivial. Mir war jedoch lange Zeit nicht bewusst, welche grundlegenden Folgerungen sich aus diesem Zwang ergeben. Insbesondere durch die Situation an meinem Arbeitsplatz bei der Betreuung von Haftentlassenen innerhalb einer therapeutischen Wohngemeinschaft habe ich mich zeitweise so in Anspruch nehmen lassen, dass ich eher das Gefühl hatte, von ,Sachzwängen' eingekeilt zu sein und kaum eine andere Wahl zu haben als das zu tun, was gerade notwendig war. Den Zwang, mich für einen Tätigkeitsbereich entscheiden zu müssen, bzw. die diesem Zwang zugrundeliegende Freiheit, überhaupt zwischen verschiedenen Handlungsalternativen wählen zu können, habe ich in dieser Zeit kaum als solche erlebt.

Ich nehme an, dass Du das Gefühl, von den aus einer Sache erwachsenden Anforderungen aufgefressen zu werden, in ähnlicher Form auch erlebst, in welchem Bereich Deines persönlichen Umfeldes das auch immer sein mag. Da es leichter fällt, sich über Dinge Gedanken zu machen, wenn man über einen gemeinsamen Erfahrungshorizont verfügt, möchte ich Dir mehr als Beispiel ein Bild vermitteln von mir in meiner Funktion als Betreuer innerhalb des Arbeitsfeldes .Wohngemeinschaft'. Falls Du Dich für Theorie interessierst: ich lege der Darstellung meines Praxisfeldes den theoretischen Ansatz der Gestaltpsychologie zugrunde (siehe Anmerkung am Schluss dieses Beitrags).

2.1

Zunächst ist da der institutionelle Rahmen. Die Wohngemeinschaft verfügt über 12 Plätze für haftentlassene Männer und Frauen. Die meisten Bewohner sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Sie können bis zu einem Jahr hier wohnen und werden von den Mitarbeitern des Teams betreut. Träger der Wohngemeinschaft ist ein Verein, der aus der ehrenamtlichen Straffälligenhilfe gewachsen ist. Arbeitgeber für das Team ist der Vorstand dieses Vereins. Die finanziellen Mittel für die laufenden Kosten der Einrichtung werden größtenteils durch den überörtlichen Träger der Sozialhilfe getragen.

Im Konzept ist vorgesehen, das Leben innerhalb der Wohngemeinschaft weitgehend den Lebensbedingungen außerhalb von öffentlichen Einrichtungen (Gefängnis, Heim) anzugleichen. Die Betreuungsarbeit ist darauf gerichtet, die Bewohner durch die Verwirklichung dieser konzeptionellen Idee auf ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben ohne Straffälligkeit vorzubereiten. Die Inhalte der Betreuungsarbeit sind dabei so vielschichtig wie die Probleme, die die Bewohner mitbringen.

2.2

Um Dir ein möglichst anschauliches Bild zu vermitteln, will ich Dir einen unserer Klienten und die Entwicklung seiner Beziehung zu mir in Ansätzen beschreiben.

Es ist Günter, in einem sehr schwierigen Elternhaus aufgewachsen, mit 16 Jahren inhaftiert, mit 21 aus der Haft entlassen und in die Wohngemeinschaft aufgenommen. Günter hat keine Berufsausbildung und nur sehr geringe lebenspraktische Fähigkeiten: er weiß wenig vom Umgang mit Behörden oder Arbeitgebern, weiß kaum, einen eigenen Haushalt zu führen. Günter hat wenig Vertrauen zu seinen Mitmenschen, ist schüchtern, verschlossen und zieht sich oft zurück. Er meint, er sei zu nichts zu gebrauchen, fühlt sich unsicher, hat keine Lebensperspektive und ist geneigt, aufzugeben. Die anderen Bewohner sind mit ähnlichen Defiziten belastet. Ich will jedoch nicht darauf eingehen.

Als Günter zu uns kommt, gehe ich auf ihn zu und biete mich ihm als Partner an, wie ich es bei anderen Neuankömmlingen auch tue. Ich kann von vornherein nicht sagen, wie sich unsere Beziehung entwickeln wird. Zuerst ist Günter einmal froh, eine Bleibe gefunden zu haben und sieht allem anderen mit Vorbehalten und Misstrauen entgegen. Von therapeutischer Arbeit hat Günter keine Ahnung. Er spürt zwar, dass andere im Leben offenbar besser zurechtkommen als er und dass bei ihm kaum etwas so recht klappen will. Günter hat jedoch nicht gelernt, Probleme richtig anzufassen: sie als solche zu erkennen, zu analysieren und Lösungsstrategien zu entwickeln. Mit mir über solche Dinge zu reden, ist ihm im Anfang ungewohnt, verstärkt sein Misstrauen. Um einen Zugang zu Günters persönlichen Schwierigkeiten zu gewinnen, versuche ich daher, viel zusammen mit ihm zu tun, was sich im Alltag der Wohngemeinschaft ergibt. Wir erleben uns so in den verschiedensten Situationen und lernen uns so gegenseitig langsam kennen. Es bahnt sich eine Beziehung zwischen uns beiden an, die es mir mit der Zeit ermöglicht, Günter auf einzelne Problembereiche anzusprechen, ihm Rückmeldung über kritische Situationen zu geben und gemeinsam Strategien zu entwickeln.

Für Günter ist unsere Beziehung offenbar eine völlig neue Erfahrung. Er ist froh, jemanden gefunden zu haben, der ihn versieht, der auf ihn eingeht, der ihn wichtig nimmt. Ich spüre, wie Günter in der Gruppe freier wird, sich behaupten lernt, mehr Selbstvertrauen gewinnt, und fühle mich in meiner Arbeit bestätigt. Zugleich spüre ich aber auch, dass Günter mich zunehmend mehr an sich heranzieht dass er mich vereinnahmt, dass seine Erwartungen an mich größer werden.

2.3

Ich möchte das Bild unserer Beziehung weiter vervollständigen, das Gemeinsame, das zwischen Günter und mir sowie auch in ähnlicher Weise zwischen mir und einigen anderen Bewohnern entstanden ist, als einen in sich strukturierten und nach außen mehr oder weniger abgegrenzten Prozess verstanden wissen, der aber eingebettet ist in einen Gesamtzusammenhang, wie ihn die »Einrichtung Wohngemeinschaft' darstellt.

Während ich mich mit Günter beschäftige, haben meine Kollegen sich auf andere Klienten konzentriert oder sind anderweitig beschäftigt. Auf der anderen Seite gibt es viele Situationen, in denen sich meine Kollegen mit Günter auseinandersetzen müssen, während ich wegen unserer unterschiedlichen Dienstzeiten oder aus anderen Gründen nicht anwesend bin. Meine Kollegen und ich kommen so zu jeweils unterschiedlichen Hintergrundinformationen über die einzelnen Klienten, obwohl wir alle denselben Arbeitsbereich und dieselben Aufgaben haben. Als wesentliches Moment kommt noch hinzu, dass jeder Mitarbeiter des Teams auf einen Klienten in seiner eigenen, für ihn spezifischen Weise zugeht und dass jeder die einzelne Situation, in der er den Klienten erlebt, aus seinem persönlichen Erfahrungsbereich heraus unterschiedlich interpretiert.

Um nur ein einfaches Beispiel zu nennen: Günter weigert sich, den Küchendienst zu übernehmen und seiner Aufgabe gemäss für alle Bewohner zu kochen. Aus dem Verständnis seiner Situation heraus, unter Berücksichtigung seiner unzureichenden Fähigkeiten, seines mangelnden Selbstvertrauens und seiner Angst, sich vor seinen Mitbewohnern zu blamieren, würde ich ihn im Augenblick tatsächlich für überfordert halten und nach anderen Möglichkeiten suchen. Ein Kollege, der nicht so mit Günter vertraut ist, sich aber in dieser Situation mit ihm auseinandersetzen muss, erlebt Günter als verschlossen, bockig, sich aggressiv weigernd und gerät heftig mit ihm aneinander. Im Ernstfall sieht sich mein Kollege in seinem Verhalten durch mich zu wenig unterstützt. Er wird meinen, ich sei Günter gegenüber zu nachgiebig, zu weich und fördere bei Günter ein Verhalten, das ihn am Arbeitsplatz die Stelle kosten würde. Mein Kollege wird die Überzeugung gewinnen, dass wir unterschiedliche Ziele verfolgen, und er wird im Extremfall sogar an meiner therapeutischen Kompetenz in dieser Arbeit zweifeln.

Diese Unterschiede in der Bewertung von Situationen und ihre Folgen für unser Handeln lassen sich relativ leicht durch Fallgespräche während gemeinsamer Teamsitzungen verhindern. Durch die Praxis müssen wir jedoch erkennen, dass dieser Konflikt noch grundsätzlicher wird. Es tauchen Probleme auf, die an die innere Einstellung jedes einzelnen Mitarbeiters herangehen, intime Bereiche seiner Persönlichkeit berühren und unterschiedliche Handlungsbereitschaften erkennen lassen. So müssen wir uns etwa fragen: Nach welchem Vorfall kann ich es vor mir selber verantworten, einen Bewohner auf die Strasse zu setzen, selbst wenn er dann sicher wieder rückfällig wird? Wie weit traue ich es mir zu, mich auf die persönlichen Probleme der Klienten einzulassen, und in welchem Masse kann ich dabei meine eigene Betroffenheit ertragen? Will ich in meiner Arbeit Methoden anwenden, die an die Gefühle des Betroffenen herangehen, oder ziehe ich mich als anderes Extrem lieber auf mehr verwaltende Tätigkeiten zurück?

Das sind nur einige Beispiele für Problembereiche, die unser tägliches Handeln im Team ständig mitbestimmen. Es fällt uns jedoch schwer, offen darüber zu diskutieren, weil dies gegenseitiges Vertrauen und Bereitschaft zur Offenheit erfordert. Wenn wir in unserer Teamarbeit weiterkommen wollen, müssen wir uns allerdings in unserer Arbeit mehr kennen und verstehen lernen. Wir erkennen dies und nehmen uns die Zeit, mehr miteinander zu reden, Gespräche mit Bewohnern gemeinsam zu führen, Gruppen gemeinsam zu leiten. Dieser Aufwand lohnt sich: wir kommen besser miteinander zurecht, behindern uns weniger gegenseitig in der Arbeit und kommen zu einer einheitlicheren Linie bei der Betreuung. Die Zeit, die wir für uns selbst als Team benötigen, geht jedoch der direkten Betreuungsarbeit verloren. Ich kann mich nicht mehr so sehr auf Günter und die einzelnen Bewohner konzentrieren sondern muss meine Aufmerksamkeit auch noch auf meine Mitarbeiter richten.

2.4

Die intensive Auseinandersetzung mit unseren Bewohnern und mit uns selbst im Team lässt uns zeitweise vergessen, dass wir nur Angestellte eines kleinen Vereins sind. Die einzelnen Vorstandsmitglieder als unsere direkten Arbeitgeber verfügen über die verschiedensten Informationsquellen und machen sich so ihr eigenes Bild von der Arbeitsweise eines jeden Mitarbeiters. Im gemeinsamen Gespräch wird deutlich, dass die Betreuungsarbeit, wie wir sie leisten, nach Ansicht der Mitglieder im Vorstand viel zu intensiv ist und darüber hinaus eine personelle Kapazität erfordert, die langfristig gar nicht zu finanzieren ist. Es wird der Spruch laut, zu viel Therapie sei gar nicht gut. Und außerdem würden wir viel zu viel Zeit mit Teamsitzungen und anderen Besprechungen verbringen, die viel sinnvoller für den Klienten zu verwenden sei. Der Vorstand gewinnt die Überzeugung, dass wir andere Ziele verfolgen als er, und äußert offenes Misstrauen gegenüber unserer Arbeitsweise.

Für uns entsteht das Problem, wie wir dem Vorstand gegenüber den Erfahrungshintergrund vermitteln können, aus dem heraus wir uns zu unserer Arbeitsweise entschlossen haben. Es wird klar. dass sich die einzelnen Vorstandsmitglieder ihre Meinung über unsere Arbeit aus ihrem jeweiligen Verständnis von Straffälligenhilfe heraus bilden und dass dabei auch persönliche Einstellungen und Vorbehalte eine wichtige Rolle spielen. So erscheint die Beschäftigung mit den einzelnen Problemen eines Bewohners als völlig überzogen, wenn man die Wohngemeinschaft als einen mehr oder minder kurzen Übergang von der Haft hin zu dem Leben in Freiheit ansieht. Dies wäre alles nicht so sehr von Bedeutung, wenn nicht der Vorstand unser Arbeitgeber wäre und an entsprechender Stelle für die weitere Finanzierung der notwendigen Mittel für unsere Arbeit eintreten müsste. Dies macht es aber notwendig, dass sich die einzelnen Mitglieder des Teams in ähnlicher Weise mit dem Vorstand auseinandersetzen und um gegenseitiges Vertrauen bemühen, wie wir es unter uns Kollegen gerade versuchen. Wenn ich die Energie und die Zeit, die ich für meinen Kontakt zu den einzelnen Mitgliedern des Vorstands verwende, als Arbeitskraft und -zeit ansehe, dann fehlen mir diese Kraft und diese Zeit jedoch für meinen direkten Kontakt zum Klienten.

2.5

Um das Bild weiter zu vervollständigen, will ich nicht noch höher hinaufklettern zu den einzelnen Entscheidungsinstanzen, die uns durch ihre Richtlinien mehr oder weniger direkt in unserer Arbeit beeinflussen, und ich will auch nicht auf den politischen Weg eingehen, das gesellschaftliche Bewusstsein von der Straffälligenarbeit heranziehen. Ich möchte aber einen anderen Aspekt nicht ganz unberücksichtigt lassen. Er betrifft mich selbst als Teil des Teams, aber mit den Forderungen und Ansprüchen, die außerhalb meines Arbeitsplatzes an mich gestellt werden und meine konkrete Betreuungsarbeit mit dem Klienten beeinflussen, indem sie einen erheblichen Teil meiner Energie und meiner Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen Wenn ich die Dinge ernst nehme - und das ist ja mein ureigenstes Anliegen

dann besteht für mich die Verpflichtung, mich in meiner beruflichen Qualifikation weiterzubilden, in der Politik meines Berufsverbandes und meiner Gewerkschaft mitzuwirken und auch die Arbeit in der Parteiorganisation nicht zu vernachlässigen. Und schließlich sind da auch noch meine Kameraden aus dem Sportverein, die beim Training voll auf mich rechnen, dann sind da noch meine Freunde und Bekannten und nicht zuletzt ist da auch noch meine Frau, der ich einmal versprochen habe, dass ich ganz für sie da sein will. Ich muss gestehen, manchmal wünsche ich mir, die Sachen nicht so ernst nehmen zu müssen.

3.1

Du hast das Bild, das ich Dir hier von mir und meinem Arbeitsfeld vermitteln wollte, möglicherweise schon analysiert. Ich weiß, dass ich der Klarheit und Übersichtlichkeit wegen manche Dinge weggelassen oder nur verkürzt dargestellt und andere dafür etwas überzeichnet habe. Dies erscheint mir für den Inhalt meiner Aussage aber nicht wesentlich. Mir ist auch bewusst, dass die Wohngemeinschaft gegenüber anderen Arbeitsplätzen zumindest in dreierlei Hinsicht Besonderheiten aufweist, die einen Vergleich nicht ohne weiteres zulassen. Zum einen bietet die Wohngemeinschaft als Arbeitsfeld einen ungewöhnlich großen Freiraum, in dem sich die Beziehungen zwischen den beteiligten Personen weitgehend frei von sachfremden Zwängen entwickeln können, in dem der Einzelne in seiner Persönlichkeitsentfaltung aber auch extrem gefordert wird. Zweitens erlaubt, ja erfordert das Konzept der Wohngemeinschaft als kleiner, überschaubarer Einheit eine sehr enge Beziehung zwischen Betreuer und Klienten und damit die Bereitschaft des Betreuers, sich mit dem Klienten als seinem eigentlichen Arbeitsinhalt intensiv auseinander zu setzen. Und schließlich drittens überschneiden sich die Tätigkeitsbereiche der einzelnen Mitarbeiter derart, dass eine ebenso enge Beziehung wie zuvor genannt auch unter den Kollegen notwendig wird.

Selbst wenn diese Besonderheiten des Arbeitsplatzes Wohngemeinschaft den einzelnen Mitarbeiter extrem fordern, ihn möglicherweise sogar dazu verleiten, einen Grossteil seiner Energie und Aufmerksamkeit auf den Kontakt zu Klienten und Kollegen zu konzentrieren, so glaube ich doch, dass in anderen Arbeitsbereichen ähnliche Verhältnisse herrschen, wie ich sie versucht habe darzustellen. Auch in anderen Bereichen entstehen Prozesse, an deren Entwicklung der Einzelne bewusst oder unbewusst, durch sein persönliches Tun oder auch Nicht -Tun direkt oder indirekt beteiligt ist. die entsprechend seiner Beteiligung in ihrem weiteren Verlauf von ihm abhängen und ihn damit mehr oder weniger spürbar fordern. Je mehr ich meine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Dinge und Personen um mich herum verteile und mir dabei die jeweilige Beziehung zu mir bewusst mache, um so vielfältiger werden die Forderungen, die aus der Sache heraus auf mich einstürmen, um so intensiver erlebe ich den Zwang, mich entscheiden zu müssen.

3.2

Es bleibt mir nämlich keine andere Wahl, als mich zu entscheiden. Ich muss in dem von mir erlebten Umfeld einzelne Bereiche bilden und diese jeweils für gewisse Zeit unterschiedlich gewichten, einzelne Bereiche größer fassen, andere kleiner, mich dem einen intensiver zuwenden und ihn damit in meinem Bewusstsein hervorheben, dem anderen dafür weniger Aufmerksamkeit zukommen lassen und ihn so als nachrangig betrachten.

Ich will der Anschaulichkeit wegen bei meiner Beziehung zu den Klienten bleiben. Ähnlich wie mit Günter kann ich wohl mit vier oder fünf Klienten gleichzeitig arbeiten. Ich muss mich dann aber entscheiden, zu den anderen Bewohnern ein weniger intensives Verhältnis aufkommen zu lassen und den Kontakt zu ehemaligen Bewohnern möglicherweise ganz abzubrechen, wenn ich mich auch noch um die anderen Dinge kümmern will, ohne die, wie oben beispielhaft dargestellt, eine Arbeit in der Wohngemeinschaft nicht denkbar ist.

Bei der Entscheidung für die vier oder fünf Klienten kommt allerdings ein wesentlicher Faktor erschwerend hinzu: ich muss mir bewusst machen, dass das Erreichen eines bestimmten Therapieziels von einer gegebenen Ausgangslage aus eine für diesen Entwicklungsprozess spezifische Intensität und Ausdauer erfordert und dabei sukzessive auf Schritten aufbauen muss, die durch die Qualität des angestrebten Prozesses mehr oder weniger zwingend determiniert sind. Und ich muss berücksichtigen, dass sich dieser Prozess im Rahmen der Institution Wohngemeinschaft vollziehen soll und damit deren Bedingungen wie etwa die Anwesenheit anderer Klienten, die Bereitschaft meiner Kollegen zur Mitarbeit und anderes mehr mit einbeziehen muss. Indem ich als Betreuer in einen solchen mehr oder weniger klar umrissenen therapeutischen Prozess einwillige, fühle ich mich für gewisse Zeit mit der notwendigen Intensität an den Klienten gebunden und ziehe auch meine Kollegen mit in diesen Prozess hinein

Ein Klient wie Günter, der den Anschluss an die Gesellschaft sucht und zu einem lebenstüchtigen und verantwortungsbewussten Mitbürger werden will, wird dieses Ziel nie erreichen, wenn er nur jemanden findet, der ihn mit seinen Ängsten und seiner in vielerlei Hinsicht unterbrochenen Entwicklung allein lässt. Kann ich in Zusammenarbeit mit meinen Kollegen auf einen Klienten wie Günter nicht in der Weise zugehen, wie seine Problematik es erfordert, werden wir in unserem therapeutischen Bemühen zwangsläufig scheitern oder uns auf das Erreichen von Teilzielen beschränken müssen, etwa darauf, dass ich ihm zu einem Einkommen verhelfe, durch das er sich nach dem Auszug aus der Wohngemeinschaft selber versorgen kann. Ich muss mir dabei jedoch vor Augen führen, dass das Erreichen solcher Teilziele nur dann sinnvoll sein kann, wenn damit das Wesentliche einer Problematik überwunden wird, wenn Günter also nicht aufgrund seiner übrigen Problematik allein in seinem Zimmer hockt, am Leben verzweifelt und sich bei ihm die Meinung verfestigt, dass auch alle therapeutischen Bemühungen ihm wohl nicht helfen können.

3.3

Wenn ich die Sache ernst nehme, stehe ich hier tatsächlich vor einer sehr wichtigen Entscheidung. Bei der Aufnahme eines Klienten in die Wohngemeinschaft und bei dem Angebot, das ich ihm gegenüber damit mehr oder weniger ausdrücklich verbinde, muss ich mich fragen, ob die mir gegebenen Möglichkeiten im Rahmen meines Arbeitsplatzes ausreichend sind, um mich erfolgversprechend mit Klienten befassen zu können, die eine ähnlich umfassende Problematik aufweisen wie Günter, oder ob ich mich nicht lieber auf weniger komplexe Fälle konzentriere und Günter an eine andere Institution mit möglicherweise besseren Bedingungen verweise oder aber ihn sich selbst überlasse, ihn nicht aufnehme und ihm damit möglicherweise am wenigsten schade. Ich denke da nur an einen Staatsanwalt, der Günter nach einer erneuten Straftat vorhalten würde: „Und selbst eine therapeutische Wohngemeinschaft konnte ihn nicht so weit bessern, dass . . .".

4.

Ist das Resignation? Wir haben uns tatsächlich in unserer Betreuungsarbeit von vornherein beschränkt, indem wir akute Alkoholiker und Drogenabhängige gar nicht erst in die Wohngemeinschaft aufgenommen haben. Doch es gibt auch viele unserer Bewohner, die es trotz unserer gemeinsamen Bemühungen nicht geschafft haben, nach ihrem Auszug aus der Wohngemeinschaft auf eigenen Beinen zu stehen und dabei nicht wieder straffällig zu werden, Klienten also, denen wir nicht die Bedingungen geben konnten, die sie für die Erreichung ihrer anfangs gesteckten Ziele benötigten. Man könnte versuchen, den Klientenkreis weiter einzuengen oder die Bedingungen zu verbessern. Ich glaube jedoch nicht, dass man dadurch an dem grundsätzlichen Problem etwas ändern wird.

Für mich ist es keine Resignation, wenn ich auf der einen Seite die Probleme aus der fehlgesteuerten Entwicklung eines Klienten erkenne und den therapeutischen Prozess vor Augen habe, den eine Korrektur dieser Entwicklung erfordert, und wenn ich auf der anderen Seite die Bedingungen meiner Betreuungsarbeit innerhalb des institutionellen Rahmens der Wohngemeinschaft sehe, mit den Grenzen, die allein schon dadurch bestimmt werden, dass sich jeder Beteiligte nur jeweils einer Sache zur gleichen Zeit zuwenden kann, dabei jedoch die Gesamtheit der Faktoren berücksichtigen muss, die den angestrebten Entwicklungsprozess mehr oder weniger direkt beeinflussen. Aus der Beschränkung, die mir daraus erwächst, nicht zugleich alle mir gegebenen Bedingungen in der erforderlichen Weise verändern zu können, leitet sich für mich logisch die Forderung ab, meine Arbeit mit Günter als konkretem Beispielfall lediglich als einen Teilbereich in dem Entwicklungsprozess anzusehen, den die gesamte Wohngemeinschaft als Institution in ihren verschiedenen Bereichen durchläuft. Ich muss meine Beziehung zu Günter entsprechend relativieren und einsehen, dass sowohl ich selbst als auch meine Kollegen und die gesamte Wohngemeinschaft mit den ihr anhaftenden Bedingungen in einer Entwicklung begriffen sind. die es unter Umständen aus einer übergeordneten Sicht notwendig erscheinen lässt, dass ich mich zeitweise auf andere Bereiche dieses umfassenderen Entwicklungsprozesses konzentriere, etwa auf meine Beziehung zum Vorstand oder anderen, noch höheren Entscheidungsgremien, und dafür aber in Kauf nehme, die Entwicklung Günters als Einzelfall nicht nachhaltig genug beeinflussen zu können, ihn also aufgeben muss.

Die persönliche Betroffenheit, die ich in diesem Fall empfinde, ist für mich kaum zu ertragen. Ich stelle mir gerade vor, ich müsste Günter gegenüber diese logische Gedankenfolge darlegen. Ich fühle mich zu einer Entscheidung gezwungen und spüre, dass bei der Wahl zwischen dem hautnah von mir erlebten Klienten einerseits und der langfristig sich - möglicherweise - abzeichnenden Entwicklung meines Arbeitsplatzes in der Wohngemeinschaft andererseits mein Gefühl eher auf der einen und mein Verstand eher auf der anderen Seite stehen.

5.

Ich will die Darstellung meiner Überlegungen hier abbrechen. Mir war es wichtig, einmal zu beleuchten, wem gegenüber ich alles ,,nein" sagen muss, wenn ich zu einer Sache ,,ja" sage, und in welchem Masse mich diese Sache fordern kann, wenn ich den Anspruch habe, eine von mir eingeleitete und mitgetragene Entwicklung zu Ende zu führen. Bei der Beschäftigung mit diesem Thema ist mir deutlich geworden, dass mir die Grenzen meines Handelns oft gar nicht so bewusst sind und dass ich erst noch lernen muss, mit diesen Grenzen umzugehen. Ich überlasse es Dir, in wie weit Du versuchst, die hier dargestellten Gedankengänge auf die verschiedensten Bereiche in Deinem persönlichen Umfeld zu übertragen. Und ich will Dich auch alleine lassen, wenn Du Dir klar darüber wirst, wem gegenüber Du alles „nein" sagen musst, und dabei den Zwang spürst, Dich entscheiden zu müssen.


Anmerkung: Der Darstellung und Interpretation meiner Praxiserfahrung liegt der theoretische Ansatz der Gestaltpsychologie zugrunde, wie er u.a. durch Metzger, W.: Psychologie, Darmstadt 1968, umfassend verdeutlicht wird. Aus dieser Sicht lassen sich einige der von mir gewählten Begriffe wie folgt verstehen: