Stottern als misslungener Selbsthilfeversuch

überarbeiteter Text des Beitrages
Hans-Werner Stecker: Der Selbsthilfeansatz in der Therapie des Stotterns. aus:
Hinteregger, Friedrich & Meixner Friederike (Hrsg.): Stottern aus der Sicht der Betroffenen und der Therapeuten.
Jugend und Volk Verlagsgesellschaft, Wien, 1988

Die Überarbeitung des Textes wurde angeregt durch das Interesse der Teilnehmer des Seminars "Das psychologische Umfeld des Stotterns", das ich am 14.-16.6.2002 in Backup leiten durfte. Ich bedanke mich für die vielen Anregungen in der gemeinsamen Diskussion dieses spannenden Themas.

Zusammenfassende Thesen zur Frage: Was ist Stottern?

  1. Es gibt nicht "den Stotterer" oder "die Stotterpersönlichkeit" oder "die eine Sichtweise des Stotterns". Stotterer sind so normal und so verschieden wie andere Menschen auch. In einer durch die Verhaltenstherapie geprägten Sichtweise kann man sagen: Sie haben sich nur eine etwas unzweckmäßige Art zu reden angewöhnt, durch die sie in ihrer persönlichen Entwicklung mehr oder weniger stark behindert und geprägt sind. Diese Entwicklung trägt allerdings mit dazu bei, das Stottern weiterhin aufrecht zu erhalten. Gelingt es, diese Entwicklung umzukehren, wird das Stottern weitgehend verschwinden.
  2. Das primäre Stottern besteht lediglich aus geringfügigen Sprechunflüssigkeiten, die sich im Sprechablauf kaum als störend bemerkbar machen. Es entsteht im Laufe der Sprechentwicklung eines Kindes als so genanntes "Entwicklungsstottern" und verliert sich in der Regel mit zunehmender motorischer Entwicklung, wenn es nicht weiter beachtet wird. Eine Ursache könnte sein, daß die Koordination der am Sprechen beteiligten Muskulatur noch nicht so weit entwickelt ist (das Kind denkt schneller, als es sprechen kann). Auch in späteren Jahren kann es zu gelegentlichen Sprechunflüssigkeiten kommen, die in der Regel nicht als "Problem" empfunden werden: Man kommt z.B. in Situationen der Unsicherheit lediglich mal "ins Stottern", findet danach wieder zu seiner Sprechsicherheit zurück und spricht dann wieder so wie sonst auch.
  3. Das sekundäre Stottern ist der missglückte Versuch, das primäre Stottern zu vermeiden. Es entsteht dann, wenn das Primäre Stottern als Problem empfunden wird, das man nicht haben sollte ("Du stotterst ja!" "Das ist ja schrecklich!" (siehe die Unterscheidung von "Tatsachen" und "Bewertungen" in der kognitiven Therapie). Es kann sein, daß es eine bestimmte genetische Disposition für eine Entwicklung des Stotterns gibt, die zu einer familiären Häufung führen kann. Dies ist ähnlich zu sehen wie bei anderen Störungen wie z.B. der Legasthenie. Es kann ebenso sein, daß ein gewisser Erziehungsstil die Entstehung von Stottern begünstigt: daß besonders die Kinder anfällig für eine Entwicklung zum sekundären Stottern sind, die besonders als brav oder folgsam erzogen wurden, die besonders bemüht sind, sich an den Erwartungen der Eltern oder anderer Personen zu orientieren und die eher ängstlich bemüht sind, Misserfolge zu vermeiden anstatt voller Zuversicht auf eigene Erfolge zu vertrauen - und dies alles besonders bei Eltern oder anderen relevanten Erziehungspersonen, für die Sprache (oder Nicht-Stottern, weil sie selbst stottern) besonders wichtig ist und die hinsichtlich der Entwicklung ihres Kindes besonders besorgt sind. Unter solchen Bedingungen wächst das Kind in einer Atmosphäre auf, in der es besonders bemüht sein wird, bei aufkommenden Sprechunflüssigkeiten diese als "Stottern" zu identifizieren und eher ängstlich und verschreckt zu reagieren und sich dabei körperlich zu verspannen. Wie ein Kaninchen auf die Schlange wird es gebannt auf seine Sprechunflüssigkeiten starren. Auf diese Weise wird es eine "Problemtrance" entwickeln. Es wird versuchen, dieses "schreckliche Stottern" zu vermeiden und Strategien zu entwickeln, wie es diese Sprechunflüssigkeiten umgehen kann. Das "sekundäre Stottern" entsteht: das Festhalten der noch flüssigen kleinen Stottersymptome zu tonischen Stotterblockaden, die Mitbewegungen (Kopfnicken, Fuß stampfen, Schnippen, usw.), um die Blockaden zu lösen, usw., usw. Genau so wie bei jemandem, der vom Hund gebissen wurde und künftig Angst vor Hunden hat, entwickelt sich eine Angst vor dem Stottern und die Tendenz, Sprechsituationen zu vermeiden. Mit zunehmender Entwicklung werden diese Vermeidungsstrategien komplizierter und umfassender, indem sie sich nicht nur auf das Sprachverhalten beziehen, sondern das gesamte Verhaltensspektrum des Stotterers einschließen (Einstellungen, Sozialisation, usw.). Erst das sekundäre Stottern ist die wesentliche "Störung", an der ein Stotterer leidet.
  4. Die einzelnen Maßnahmen (Tricks), die der Stotterer erfindet, um sein Stottern zu vermeiden (sein sekundäres Stottern), führen direkt zum Erfolg, indem sie die augenblicklich unangenehme Situation beenden (in der Verhaltenstherapie nennt man dies eine "negative Verstärkung" im Rahmen der "operanten Konditionierung"). Dieser Prozess vollzieht sich in Sekundenbruchteilen des Sprechvorgangs und ist der wesentliche "Symptomgewinn" des Stotterns. Dieser Symptomgewinn ist Grund dafür, die einmal erfolgreichen Tricks auch weiterhin zu verwenden und sie so zu automatisieren, dass sie später nur durch bewusstes und intensives Gegensteuern unterlassen werden können. Gerade in Stresssituationen wird der Stotterer unbewusst auf die Verhaltensweisen zurückgreifen, die in der Vergangenheit "erfolgreich" waren (auf die er sich konditioniert hat).
  5. Die Entwicklung des sekundären Stotterns in seinem gesamten komplexen Erscheinungsbild beruht auf dem Versuch des Stotterers, sich selbst zu helfen - es ist ein misslungener Selbsthilfeversuch. Das Erlebnis dieses vergeblichen Bemühens führt zur Entwicklung "abergläubischer Verhaltensweisen" (die Stärke meines Stotterns ist abhängig vom Stand der Gestirne, usw.) sowie einer "gelernten Hilflosigkeit" dem Stottern und - generalisiert - allen anderen Problemen gegenüber. Konsequenzen daraus sind häufig: Passivität bis hin zur tiefen Depression, Verdrängung als einzig erkennbarer Ausweg. Es entsteht eine "Problemtrance" in Form einer "Selbsthypnose", die sich unbewusst vollzieht und sich wie ein Spinnennetz um den Stotterer legt, so dass ein Entrinnen fast unmöglich ist: er merkt diesen Prozess nicht einmal und kann deshalb auch nichts dagegen unternehmen.
  6. Stottertherapie heißt, Stotterer herausführen aus dieser Sackgasse unzweckmäßiger Selbsthilfeversuche. Eine Möglichkeit besteht darin, ihm die Unzweckmäßigkeit seiner bisherigen Lösungsversuche zu verdeutlichen und ihn zu befähigen, sich auf konstruktive Weise selber zu helfen (Non-Avoidance-Ansatz, Rational-Emotive Therapie, Hypnotherapie).
  7. Stottertherapie ist eine Unterweisung in Selbsthilfe. Sie beginnt damit, dem Stotterer die Erfahrung zu vermitteln, dass er sich in seine Problemsicht verstrickt hat, dass er sich aber selbst helfen kann, ihn zu motivieren, sich selbst das notwendige Veränderungswissen anzueignen und ihn damit zur Selbsthilfe zu befähigen, um schließlich Selbsthilfe planvoll praktizieren zu können.
  8. Die Methoden der Stottertherapie beziehen sich nur zu einem geringen Teil direkt auf den Sprechvorgang. Von entscheidender Bedeutung sind vielmehr Methoden, die den Stotterer zur Praxis der planvollen Selbsthilfe hinführen, zur Umsetzung der Therapieerfahrungen in seinen Alltag (Transfer).

Wie erreiche ich eine Veränderung des Stotterns in der Therapie oder in der Selbsthilfe? 

Was ist Stottern? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage ist eine wesentliche Voraussetzung, wenn es darum geht, einen Stotterer für die Arbeit an seinem Stottern zu motivieren und ihm den Weg zu zeigen, der aus der Sackgasse seiner bisherigen Problemlösungen hinausführt. Das hier vorgestellte Konzept vom Stottern als ein misslungener Selbsthilfeversuch ist wie eine Landkarte (durchaus im konstruktivistischen Verständnis gemeint als eine Konstruktion, die die Landschaft abbilden soll, in der der Stotterer sich befindet). Sie kann für einen Stotterer die Grundlage bilden, sich selbst für sein Stottern verantwortlich zu fühlen und selbst etwas zu tun, um es in Richtung einer Verflüssigung der Sprechweise und eines befriedigenderen Gesprächskontaktes zu verändern. Das Modell des Stotterns als misslungenem Selbsthilfeversuch ist somit zugleich die Basis für konkrete Handlungsschritte. Die wesentliche Erkenntnis, die sich anfangs vielleicht nur kognitiv vollzieht, im Laufe der Arbeit am Stottern aber auch direkt erfahrbar wird, mündet in der Aussage: die gesamte Sekundärsymptomatik meines Stotterns ist der leider misslungene Versuch, nicht zu stottern: Die bisherige Entwicklung meines Stotterns beruht auf einer unzweckmäßigen "Weichenstellung", der Weichenstellung in Richtung einer "harten Lösung", die das Problem in seiner unangenehmen Wirkung zwar kurzfristig mindert, langfristig aber nicht löst, sondern aufrecht erhält und sogar noch verstärkt (vergleichbar einem "Problemtrinker", der seine Probleme scheinbar durch Alkohol "löst", sie dadurch aber noch verschlimmert). In welcher Weise dies geschieht, wird am "Beispiel Wursttheke" deutlich.

Als Konsequenz aus diesem Konzept lässt sich folgern: Die Lösung des Problems Stottern besteht darin, zu erkennen, dass mich meine bisherigen Losungsstrategien in die falsche Richtung geführt haben, und die Weichen neu zu stellen. Hier können verschiedene Sichtweisen zu verschiedenen Erklärungsansätzen und Strategien führen. Für mich hat sich der Ansatz von Van Riper als am wirkungsvollsten erwiesen - vielleicht deshalb, weil ich mich mit diesem Ansatz am meisten identifizieren konnte. Er bildet die Grundlage des "Beispiels Wursttheke", an dem stellvertretend für viele andere Situationen demonstriert werden soll, was im einzelnen notwendig ist, um die neue Weichenstellung in Richtung Problemabbau oder "weniger Stottern" auch tatsächlich vollziehen zu können.

In dem Beispiel wird versucht, einen misslungenen und einen gelungenen Selbsthilfeversuch gegenüberzustellen und die entscheidenden Faktoren zum Gelingen herauszuarbeiten. Es wird deutlich, dass ein Stotterer sich bereits ein umfassendes Veränderungswissen angeeignet und die Prinzipien einer systematischen Vorgehensweise gelernt haben muss, wenn er die bei seinem Therapeuten oder in der Selbsthilfegruppe gelernten Techniken erfolgreich anwenden will ("Problem Transfer"). 

Das dargestellte Beispiel beginnt bereits bei der Vorentscheidung: will ich planvoll und systematisch vorgehen oder will ich es darauf ankommen lassen. Im Negativbeispiel wird deutlich, wie der Stotterer seinen Stress immer weiter aufbaut, in der konkreten Sprechsituation "versagt" (versagen muss), auf seine alten Tricks (z.B. das Lösen eines Blocks durch Fingerschnippen) zurückfällt und nach Beendigung der Sprechsituation unfähig ist, sie für sich konstruktiv auszuwerten. Im Positivbeispiel versucht der Stotterer dagegen systematisch, erst einmal die Voraussetzungen für das Gelingen der Übung zu schaffen (klare Aufgabenstellung, Vorübung im Sprechen, Entspannung, Einstellung). Es gelingt ihm dann, sich bewusst zu steuern und diesen erfolgreichen Versuch als einen Schritt in seinem therapeutischen Prozess für sich auszuwerten.

Das Beispiel von der Wursttheke verdeutlicht die systematische Vorgehensweise als das wesentliche Element planvoller Selbsthilfe (auch in der Therapie). Damit ein Stotterer sich für eine solche Vorgehensweise entscheidet, sie tatsächlich praktiziert, ist es jedoch notwendig, dass er parallel zur Selbsthilfefähigkeit auch die Bereitschaft zur planvollen Veränderung entwickelt. Hier geht es darum: wie komme ich vom bloßen Wissen über die Dinge (was schon sehr viel ist) zum konkreten Tun (es gibt nichts Gutes außer man tut es!!). Hier gibt es vielfältige Faktoren, von denen einige im Text zur Selbsthilfe dargestellt sind. Sie lassen sich verstehen als eine Art "Reifungsprozess", durch den erklärlich wird, wenn manche Stotterer von sich sagen: "Ich habe jetzt eine erfolgreiche Stottertherapie beendet. Aber vor 5 Jahren hätte mir dieselbe Therapie nichts gebracht. Da fehlte mir einfach der nötige Biss". Ein Weg, mit diesem Problem umzugehen, scheint mir zu sein, eine Atmosphäre zu schaffen, die der Entwicklung zur planvollen Selbsthilfe förderlich ist. Dies ist zentraler Inhalt der Seminare zur Förderung der Selbsthilfefähigkeit.

Der Weg der Selbsthilfe ist sehr ähnlich wie der Weg, der im Rahmen einer Psychotherapie zu beschreiten ist. Eine Psychotherapie des Stotterns kann nur dann die gewünschte wirkung erreichen, wenn sie sich als eine Unterweisung in Selbsthilfe versteht. Wichtige Grundlagen für beide Wege sind dargestellt im Therapieratgeber.