Mein Verständnis von Psychotherapie

Entsprechend dem Text auf meiner Home-Seite:

Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beschäftigen,
sondern unsere Vorstellungen davon
.

Dieser Satz stammt sinngemäß vom griechischen Philosophen und Stoiker Epiktet (um 50-138 n. Chr) .

Er bildet u.a. die Grundlage der kognitiven Therapie. Ein wesentlicher Grundgedanke dieser Therapie ist die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Bewertungen. Derselbe Gegenstand oder dasselbe "Ding" mag vom Einen als "schön und begehrenswert", vom Anderen als "hässlich und abstoßend" wahrgenommen und erlebt werden. Diese Bewertung geschieht in der Regel, ohne dass sie bewusst wird. Und sie ist ein ein wesentlicher Faktor für die körperlichen Reaktionen auf dieses "Ding", vom Erröten und der Gänsehaut bis zum Sodbrennen und Erbrechen. Die Geschichte vom Hammer macht dies deutlich. Sie ist zugleich auch ein Beleg dafür, dass jemand sich selbst in eine gewissen Zustand versetzen kann, den man im Sinne der Hypnotherapie als Alltags-Trance bezeichnen kann. Wie dies zu verstehen ist, zeigt noch deutlicher das Beispiel der Depressionsspirale.  

Und so hat jeder seine eigene Welt  

Durch die subjektive Bewertung der Dinge konstruiert jeder für sich seine eigene Welt. Man kann auch sagen: Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ist nicht, wie sie ist, sondern das, was wir durch unsere Wahrnehmung daraus machen - und sie ist für jeden von uns anders. Was dabei in unserem Kopf entsteht, ist so etwas wie eine Landkarte, in gewisser Weise ein Abbild der Landschaft, in der wir uns befinden und in der wir agieren. Diese Landkarte kann stimmen oder auch nicht, sie kann weiße Flecken enthalten oder bis ins Detail ausgestaltet sein. Es ist aber nützlich, Landkarte und Landschaft zu unterscheiden, sonst kann es uns passieren, dass wir in einem Restaurant aus Versehen die Speisekarte essen statt das bestellte Menü. Und dabei hat jeder sicher schon die Erfahrung gemacht, dass in verschiedenen Restaurants die Gericht sehr unterschiedlich schmecken, obwohl auf der Speisekarten dieselben Begriffe stehen. Und sicher hat jeder auch schon die Erfahrung gemacht, dass er sich verfahren hat, weil seine Straßenkate nicht mehr auf dem neuesten Stand war.

Dass wir uns dennoch im Groben verstehen, liegt nur daran, dass wir teilweise eine gemeinsame Sozialisation genossen haben, uns unsere Landkarten im Kopf sich also in gewisser Weise ähneln. Bei den Feinheiten hört die Gemeinsamkeit jedoch schnell auf. Hier spielt die Individualität eine entscheidende Rolle, die individuelle Lerngeschichte und die aktuellen individuellen Gegebenheiten, durch die eben auch die individuelle Wahrnehmung geprägt ist. Dieser Gedanke führt zur Grundidee des Konstruktivismus und steht im Zentrum der systemischen Therapie. Im Konstruktivismus wird zwischen harter und weicher Realität unterschieden (vergl. Gester): Wenn mir jemand einen Kinnhaken gibt, dann ist dies zunächst eine "harte Realität", die darin mündet, dass ich benommen zu Boden sinke und den Schmerz spüre. Dies wird vermutlich jeder mit der gleichen Kondition und demselben Schlag ziemlich ähnlich erleben. Die "weiche Realität" in diesem Beispiel liegt in der Bedeutung, die ich diesem Kinnhaken gebe oder die der "Schläger" oder ein neutraler Beobachter mit dieser Situation verbinden. Es macht einen Unterschied, ob der Schläger mich "kalt erwischt" hat, ob er seine Wut an mir abreagiert, ob wir uns gerade in einem sportlichen Boxwettkampf befinden oder ob wir diesen Schlag vorher verabredet haben, um ein wissenschaftliches Experiment durchzuführen oder einen Konflikt vorzutäuschen - wer weiß. Ein zentrales Anliegen in der systemischen Therapie ist, die unterschiedlichen Bedeutungen untereinander auszutauschen, die verschiedene Personen ein und derselben Sache geben: Wie betrachten Mutter, Vater oder Geschwister, Ehepartner ein bestimmtes Problem, was bedeutet es jeweils für sie, welche Lösungen streben sie an, usw. usw..

So können verhärtete Strukturen in Bewegung kommen....
durch Umdenken den Mut haben zum Loslassen,
damit es mit Freund wieder lebendig fliessen kann

Nichts ist so beständig wie die Veränderung. Teile eines Ganzen kommunizieren ständig miteinander, sind ständig in Bewegung, verändern sich und ihre Beziehungen zu den anderen Teilen des Ganzen. Das "Ganze" kann ein Mensch sein, ein Individuum mit seinen unterschiedlichen aktuellen und übergreifenden Aspekten, es kann ein Paar sein oder eine Familie mit Eltern und Kindern und Freunden und wer sonst noch so dazu gehört oder es kann ein Betrieb sein, eine Firma, ein Verein oder auch ein Staatengebilde. Das "Ganze" ist jeweils ein Produkt (oder eine "Erfindung") unserer Wahrnehmung und wird durch unsere Sichtweise definiert. Es findet seine Korrespondenz in der "realen Welt", ist aber nicht mit ihr identisch (darum täuschen wir uns ja so oft). Es gliedert sich in seine Teile und ist selbst ein Teil in einem größeren Ganzen. Alles beeinflußt sich wechselseitig, die Teile untereinander, die Teile das Ganze und umgekehrt. Dies alles sind zentrale Themen der Gestaltpsychologie mit ihrer Phänomenologie und der Systemischen Therapie mit ihrem Konstruktivismus (siehe "Systemisches Denken und Kunst").

Probleme entstehen dann, wenn Veränderungen blockiert werden, wenn Energien nicht mehr ungehindert frei fließen können, sich aufstauen. Es entstehen Spannungsfelder zwischen den beteiligten Teilen eines Ganzen, die nur durch "Gewalt" in ihrer alten Beziehung zueinander gehalten werden können. Der Begriff "Gewalt" sei hier im übertragenen Sinne verstanden mit Prozessen wie etwas verdrängen, beiseite drängen, nicht wahr haben wollen, festhalten, nicht loslassen können. Häufig spielt Angst dabei eine große Rolle. Im Verständnis der Bioenergetik führt ein solcher Prozess zu einem Muskelpanzer und zu körperlichen Fehlhaltungen, die letztlich Schmerzen und Krankheiten verursachen. Diese Energien lassen sich auf allen Ebenen menschlichen Seins als unbewusste und auch bewusste körperliche Prozesse, Gefühle und Gedanken eines Individuums und auch als interaktive Prozesse zwischen verschiedenen Individuen verstehen.

Therapie führt zur Lösung von Problemen, indem sie Blockaden auflöst und Energien wieder frei fließen lässt: sowohl innerhalb eines Individuums wie auch in zwischenmenschlichen Kontakten. Wenn dies gelingt, dann "stimmt" das Ganze wieder, ist "prägnant", ist nicht mehr in sich brüchig oder widersprüchlich. Häufig erfordert es Mut, die "eigenen Realitäten" mit den "äußeren Realitäten" in Einklang zu bringen und sich darauf einzustellen, was nicht zu ändern ist, und es erfordert Kraft, zu verändern, was zu verändern ist, damit es stimmig wird. Und es erfordert Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. (in Anlehnung an einen Spruch der anonymen Alkoholiker).

Ein wichtiges Element der Therapie besteht für mich in der Entspannung bis hin zur Meditation - sowohl in Ruhe wie auch in der Bewegung. Entspannung heißt dabei für mich einfach und vielleicht verkürzt Loslassen, damit die Dinge wieder frei fliessen und sich selbst organisieren können, bis Prägnanz erreicht ist. Entspannung ist der Kontrapunkt zur Erregung, zur Anspannung, zum Stress, zur Angst. Und wenn die Dinge wieder frei fließen können, dann läßt sich auch die Anspannung wieder genießen und Erregung kann zur Freude werden.

In diesem einfach und knapp formulierten Verständnis von Therapie vereinigen sich die mir bekannten Therapierichtungen zu einem Ganzen. Das ist für mich "integrative Therapie".

Der Weg der Selbsthilfe ist sehr ähnlich wie der Weg, der im Rahmen einer Psychotherapie zu beschreiten ist. Eine Psychotherapie kann nur dann die gewünschte Wirkung erreichen, wenn sie sich als eine Unterweisung in Selbsthilfe versteht. Wichtige Grundlagen für beide Wege am Beispiel des Stotterns sind dargestellt im Therapieratgeber.

Eine ähnliche, aber nicht ganz dieselbe Sichtweise wie früher Epiktet vertritt heute der Dalai Lama:

Wir können nicht glücklich werden,
wenn wir unsere Illusionen der Wirklichkeit vorziehen.
Die Wirklichkeit ist weder gut noch schlecht.
Die Dinge sind, wie sie sind, und nicht, wie wir sie gerne hätten.
Dies zu begreifen und zu akzeptieren ist der Schlüssel zum Glück

Epiktet würde dazu den radikalen Konstruktivismus gegenüber stellen: Es kann uns eigentlich gleichgültig sein, wie die Dinge sind. Für uns ist nur von Bedeutung, wie wir die Dinge wahrnehmen. Wir können gar nicht anders, als in einer "Illusion" zu leben, wir können aber entscheiden, in welcher. Und hier können beide sich treffen.